Carlos Miragaya

Die
Vollendung

1
Der Großvater, versunken im weichen Sofa, in der Stille der Nacht friedlich und geräuschlos atmend, zeigte ein dankbares Lächeln auf seinen Lippen, während er im Rhythmus unbeholfener Bewegungen einen seiner Füße bewegte, der Musik einer anderen Epoche folgend, einer Zeit, als er noch jung gewesen und ihm niemals eingefallen wäre, die fürchterliche Verwirrung zu ahnen, in der er sein Leben beenden würde. Danke, danke, sagte er zu seinem Schwiegersohn. Und rauchend antwortete ihm dieser an seiner Seite, seien Sie glücklich, Don Fernando, seien Sie glücklich. Da bewegte der Großvater den Fuß, der der Musik aus anderer Zeit folgte, heftiger und streifte sich den wäßrigweichen Rotz ab, der ihm aus der Nase entwich. Weißt du, wie ich starb, Isaías. Deine Frau tötete mich, Isaías, meine eigene Tochter. Schweigen Sie, Großvater, schweigen Sie, wozu daran erinnern, hören wir die Musik, rauchen Sie in Ruhe Ihr Zigarettchen, sagte ihm Isaías. Aber er schenkte ihm keine Beachtung, er schien munterer zu werden, richtete sich im Sofa ein wenig auf und sagte ihm, laß mich dir erzählen, Junge, laß mich dir erzählen. Und da sage ihm Isaías lustlos, müde, gut, Großvater, einverstanden, erzählen Sie. Und der Großvater, erfreut, daß er noch einmal erzählen konnte, wie er gestorben war, rieb sich die knochigen Hände aus trockener, aschfahler Haut und, ohne sich zu sehr zu erregen, damit ihm der kurze Atem bis zum Schluß reichte, begann zu sagen, ich erinnere mich vollkommen, wie ich am letzten Tag, an dem ich lebendig war und die Nacht, von der ich nicht wußte, daß sie die letzte sei, in meinem Bett verschlief, durch meine vom Schlaf geschlossenen Augenlider sehen konnte, wie Isidorita ins Zimmer trat, ich sah, wie sie mich anschaute, wie sie das Licht nicht einschalten wollte und wie sie zu mir herankam mit dem Strick in ihren Händen, mit dem sie mich nicht mehr leben lassen würde, mit dem sie mich töten würde. Aber ich fühlte keine Furcht, Isaías, ich fühlte nichts, obwohl ich wußte, was geschehen würde, ich wußte es, kaum daß ich sie durch die Zimmertür eintreten sah. Und es war mir auch möglich zu sehen, so als ob ich nicht in meinem eigenen Körper steckte, sondern von einem anderen Ort aus, möglicherweise am Fußende des Bettes sitzend, wie sie den Strick, in den sie einen verschiebbaren Knoten gemacht hatte, um meinen Hals legte. Das Merkwürdige, Isaías, ist, daß sie es ruhig tat, so als ob sie dabei wäre mich zuzudecken, damit ich besser schliefe, als ob es natürlich wäre, daß sie mich nicht mehr leben lassen wollte. Und ich ließ sie machen, ohne etwas Grauenhaftes in ihrem Benehmen zu sehen, nichts, Isaías, nichts, alles verlief trotz allem so wie in den übrigen Nächten.

 

 

 


 Foto: A. Mesecke. Carintia, 2004

 

Carlos Miragaya. Die Vollendung. Veröffentlicht in Neue Rundschau, Heft 2/3, 1986, S. 67-70, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main.

 

Música
Reise durch das Heute

Conexiones
Inspiración
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Epistemología
Libertad
Escritura
Psicología

 

 

2
Aber ich erinnere mich, daß ich mich vom Fußende des Bettes aufrichtete und mich ihr näherte, um ihr einen Kuß zu geben, um mich von ihr zu verabschieden, da ich trotz allem wußte, daß ich gehen würde, daß ich sie nicht mehr würde küssen können. Dann ging ich zum Schrank, wo ich das Geld aufbewahrte, und nachdem ich alles, auch die goldene Uhr und einige Dinge mehr, die mir von Wert schienen, eingesammelt hatte, brachte ich es in die Wohnstube, um es sichtbar auf dem Tisch zu lassen. Als ich zurückkam, hatte sie schon das andere Ende vom Strick am Kopfende des Bettes befestigt und machte sich daran, mich aus dem Schlaf zu wecken, mit all ihrer Kraft schreiend, steht auf, Vater, steh auf. Und sie tat es, Isaías, sie tat es, sie schrie mit all ihrer Kraft, steh auf, Papa, steh auf, du mußt gehen, steh auf, du gehst. Ich sah mich durch ihr Schreien jäh erwachen, mich bestürzt aufrichten und weggehen, ja, Isaías, weggehen, kaum daß ich erwacht war. Aber ich fühlte nicht, wie ich starb, ich fühlte nichts, nichts, nicht einmal, daß ich von meinem Leben in jenem Haus wegging. Es schmerzte mich nur zu sehen, wie Isidorita, nachdem sie die Wahrhaftigkeit meiner leblosen Unbeweglichkeit festgestellt hatte, den Daumen einer ihrer Hände zur Nasenspitze führte und, indem sie die Hand vollständig öffnete, sie mit steifen, wie ein borstiger Hahnenkamm gespreizten Fingern sie einen Augenblick für mich hin und her bewegte. Und als ich ihre Wärme fühlte, ihr gemächliches, entspanntes, ruhiges und harmonisches Leben in der Friedsamkeit des Bettes, verlor ich die Furcht. Ich blieb still neben ihr, empfing ihre Wärme in meiner Kälte, beruhigte mich, nahm mich immer mehr wahr und fühlte mich an ihrer Seite ohne Befremden. Nur bestürzte mich, nicht zu wissen, was kam, es nicht zu kennen, es mir nicht vorstellen zu können.

 


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3
Das war das Schlimme, Isaías, das war das Schlimmste von allem, zu wissen, daß sie mich nicht liebte, daß sie mich geringschätzte, als ich schon gestorben war und mit jenem Schmerz verbleiben mußte, jener Bitternis. Aber ich bereute es dennoch nicht, sie geküßt zu haben, nein, das nicht, Isaías. Aber ich mußte in Raquels Zimmer gehen, um bei ihr zu weinen, langsam, gemächlich, wissend, daß ich viel Zeit hatte, aber geräuschlos, leise, um sie nicht zu wecken. Dann, in jenem Zimmer, wo Raquel schlief, die Luft erdrückend vom Atem, den sie lebte, den sie mit den langen, der Nacht eigenen gemächlichen Zügen verbrauchte, hörte ich, ohne herauszufinden, woher es kam, ein Getöse von Viola d’amore und sanften Schalmeien, das jene stille und geduldige, ruhige Luft, die meine Frau verbrauchte, verdichtete. Ich war damals von Furcht erfüllt, ja, ich glaubte, es sei die Süße von geschmeidigem Honig, mit der mein schon lebloses Fleisch verfaulte. Mich überkam ein plötzliches Grauen, aber nicht darüber, tot zu sein, mich so zu wisseen, sondern vor den Würmern, die kommen würden, um mir den Körper zu verlottern, ihn geduldig mit ihren gefräßigen, kleinen Mäulern niederzureißen. Ich fühlte, daß ich nicht allein sein konnte, daß der Mut mir nicht ausreichen würde, um mich dieser Schlächterei zu stellen, ohne die Nerven zu verlieren, ohne mit den Füßen zu strampeln und unnützerweisee aufzuschreien, um es zu verhindern. Und damals stieg ich in Raquels Bett, hielt die erschreckten Schreie, die meine Kehle ausschreien wollte, zurück, um sie nicht zu wecken, um sie nicht leiden zu machen, damit sie ihren ruhigen Schlaf weiterschlief. Aber ich klammerte mich mit allen meinen Kräften an sie. Aber es geschah nichts, was sich von der alten Geschichte so mancher Jahre unterschied, nichts, Isaías, nichts, und nach und nach schlief ich bei ihr ein, in ihren Schlaf, ihren furchtlosen Schlafzustand eintretend. Und ich schlief ein, Isaías, ich schlief ein, ja, ich schlief ein, und dort war es, wo ich mich verlor, wo ich meiner schon nicht mehr bewußt war, ohne mich im mindesten in der verblüffenden Wirklichkeit, nicht mehr zu sein, verloren zu wissen, wo ich mich, indem ich entschwand, wie ich jede Nacht entschwunden war, in der Seelenruhe und dem Nichtsein des ruhigen Schlafes verlor.

 

 

© Carlos Miragaya
Neue Rundschau
S. Fischer Verlag
Frankfurt am Mein
1986
Heft 2/3

Aus dem Spanischen von
Andrea Mesecke

 

 

 

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